Es knistert, rauscht, weht, surrt und pfeift. Ganz leise und kaum hörbar, kaum zu orten, kaum zu verstehen. Eine feierlich gespannte Atmosphäre ergreift die Anwesenden, die in das Halbdunkel eines großen, fast leeren Raumes eingelassen werden, in dem ein labyrinthisches Gitter aus 16 schwarzen Rundlautsprechern von der Decke hängt. Spontan kommt mir das Bild antiker Mysterien in den Sinn, in denen Aspiranten der Einweihung durch finstere Tempel-Innenräume irrten, um eine Epiphanie – die Erscheinung einer Gottheit – zu erwarten. Die Mysterien waren streng geheim und auf jede Indiskretion über die Vorgänge im Tempel stand die Todesstrafe, daher weiß man so wenig darüber. Aber in etwa so wie hier hatte ich mir die Atmosphäre immer vorgestellt. Doch zurück: Es ist weder 1000 vor Christus, noch bin ich in Griechenland. Es ist der 2. Februar 2019 und ich bin in der Akademie der Künste in Berlin bei der Premiere der Radio-Oper RUNDFUNK AETERNA des Komponisten und Klangkünstlers Jan-Peter E. R. Sonntag.
Man spürt die anfängliche Unsicherheit aller Anwesenden im Raum. Was ist das hier? Was sollen wir tun? Es gibt keine Bühne, keine Erklärung, keine Richtung, keine Regel, kein Ritual. Auch ich weiß noch nicht so recht, wohin mit mir. Am besten steht man ja erst mal am Rand herum und betrachtet das ganze Geschehen (und vor allem die anderen Anwesenden) mit etwas Distanz. Ich bin nicht die Einzige, die sich dafür entscheiden hat. Andere hingegen gehen munter drauf los in das Klang-Kugel-Gitter, eilen etwas hektisch von Kugel zu Kugel, ein kurzes Hören, ein schneller Blick und dann schauen sie fragend zu ihrer Begleitung. Wieder andere setzen sich in den hintersten Winkel des Raumes auf den nackten Boden und schauen aus dem Ganzdunkel ins Halbdunkel einer bizarren „Landschaft mit entfernten Verwandten“. Das wenige Licht kommt von einer Plasmalampe in einer der Raumecken und zeichnet die Konturen der Rundlautsprecher gegen die weißen Wände edel und scharf ab. Vor Kopf der in Reih’ und Glied hängenden Lautsprecher steht ein fast raumhoher, weißer Schalltrichter, die Trichteröffnung dem Raum und uns zugewandt. Majestätisch, beeindruckend, herrisch und für mich fraglos weiblich, blickt diese „antike Göttin“ auf uns herab. Großzügig wirkt die Öffnung hin zu uns, sie lockt und reizt die Neugier. Gleichzeitig spürt man aber auch, dass sich das Geheimnis, das Innere dieses majestätischen Auftritts, niemals offenbaren wird. Schweigend steht die Göttin da und lässt uns durch das Labyrinth der Klänge irren. In der physikalischen Welt ist die „Göttin“ ein sehr großes, von Jan-Peter E. R. Sonntag entwickeltes und gebautes Diffraktionshorn.
„What do you hear?“ Von irgendwo her im Raum höre ich durch das Knistern und Rauschen eine angenehm tiefe, männliche Stimme diese Frage stellen und mache mich auf die Suche nach ihr. Aus einer der 16 Kugeln, die je nach Körpergröße nahezu genau auf Ohrhöhe hängen, muss sie kommen. Unterwegs lege ich mein Ohr an den tiefen, kernigen Klang einer Bassklarinette, an ein helles Rauschen, ein dunkles Rauschen, ein dichtes Knistern, an luftige und erdige Klänge und bei näherem Hinhören wummert ein Kontrabass aus den scheinbar endlosen Sphären des Äthers daher. Die Klänge sind fein, zart, vielschichtig, charmant und einladend. Ich will gern bei ihnen verweilen, sie verfolgen und ihnen nachstellen. Normalerweise ist mir die Welt zu laut und ich bin froh, wenn ich meine Ohren schützen oder verschließen kann. Aber hier mache ich sie auf. Lege mein Ohr dicht, Membran an Membran, an die angenehm kühlen Kugeln und folge den Klängen. „Do you like the melody of these words? Do you like my voice? Do you believe this voice is human?” Ich habe ihn gefunden und: Glück, denn gerade ist kein anderer der Anwesenden an der Kugel, aus der die sanfte, freundliche Stimme des Sängers und Performancekünstlers Sam Ashley diese Fragen stellt. Fast wie in einem nächtlichen Gespräch redet Ashley vor sich hin. Über die visionären Ideen des Radios, Anfang des 20. Jahrhunderts. Da ist von der unendlichen Erweiterung des Raums die Rede. Von einer Bühne, die unsichtbar und unbegrenzt, universal und kosmisch ist. Reiner Organismus aus radiophonischen Empfindungen, eine Kunst ohne Zeit und Raum, ohne Gestern und Morgen. Es sind dies Thesen aus dem futuristischen Radio-Manifest von Filippo Tommaso Marinetti und Pina Masnata aus dem Jahr 1933. Enorme Hoffnungen und gigantische Visionen legte man damals in die kleinen, knisternden Kisten. 100 Jahre später reden wir über das Ende des analogen Radios und Norwegen schaltete als erstes Land 2017 den analogen UKW-Hörfunk ab.
Aber Jan-Peter E. R. Sonntags RUNDFUNK AETERNA ist kein sentimentaler Abgesang auf die guten alten Zeiten des Radios. Noch weiß ich nicht genau, was es ist, aber ich bemerke, wie diese lebendige Landschaft aus Knistern, Rauschen und Surren eine große Faszination auf mich ausübt. Ich ertappe mich dabei, wie ich mit meinem Ohr über viele Minuten an einer der kühlen Kugeln klebe und mich tief und immer tiefer in das Rauschen hineinhöre.
Zwischendurch wandern drei Live-Musiker mit uns durch das Gitter, die auf ihren Instrumenten die Klänge aus den Lautsprechern nachempfinden, quasi analog total. Während das nun verdächtig nach Neuer Musik klingt, muss ich daran denken, was Jan-Peter E. R. Sonntag vorher zu mir gesagt hat: Einerseits haben die technischen Voraussetzungen des Radios die gleichen Wurzeln wie die Sezierung von Klang in der Neuen und experimentellen Musik. Andererseits waren es die Institutionen der Rundfunkanstalten in Europa, insbesondere in Deutschland, welche die musikalische Avantgarde der Nachkriegszeit technisch und finanziell erst möglich machten. Radioapparate und Radiostudios wurden Teil der Kompositionen. Das Rauschen und Knistern des analogen Radios gehört also schon seit langem zu unserer Klangkultur von Iannis Xenakis bis Drones, Bits & Clicks.
Ich mache viele unterschiedliche Klangbegegnungen auf meinem Parcours durch die Rundlautsprecher und höre immer wieder bei Sam Ashley vorbei, der zwischendurch von Bertold Brechts Radio-Opern erzählt oder von Martin Heidegger, der vom abstrakten Hören spricht – die Wahrnehmung des reinen Klangs, die das Hören von der Quelle der Klangerzeugung im wahrsten Sinne des Wortes abziehen bzw. weglenken kann. Aber indem ich mich in diese „abstrakten“ Klänge versenke, begegne ich den Dingen der Welt, den Menschen und ihren Geschichten bis hin zu mir selbst wieder - nur wie von der anderen Seite. Ein „Erkenne dich selbst“ blitzt durch meine Gedanken. Und das alles von ein bisschen Rauschen aus schönen, kühlen Kugeln … ?
Wo mir nur die Beschreibung subjektiver Empfindungen möglich ist, findet Detlev Schneider im April 2016 in „Theater der Zeit“ in einem Artikel über Jan-Peter E. R. Sonntag pointiertere Formulierungen: „Performative Séancen in opernhafter Opulenz wechselten bruchlos mit medienarchäologischen Laboranordnungen, konzertanten Installationen und hochkarätig diskutierenden Symposien.“
Das Format der Oper scheint Jan-Peter E. R. Sonntag dabei besonders zu interessieren, aber nicht so sehr als bürgerliches Kulturereignis, sondern als Erweiterung eines opulenten, mehrdimensionalen, performativen Geschehens. Das Arbeiten mit Sound wird zur Raumkunst, die sich unmittelbar an den Körper richtet und damit das Dionysische der Kunst nicht mehr in den Gegensatz zu Wissenschaft und Forschung stellt – im Gegenteil. „Die Oper ist das Versprechen auf eine große Komposition, in der sich Raum, Klang und Text durchdringen, und es ist zugleich eine bürgerliche Institution, ein Haus und eine gewachsene Infrastruktur aus verschiedensten Gewerken und Experten,“ beschreibt Jan-Peter E. R. Sonntag es selbst. Geprägt von Conceptual Art, Minimalismus, Noise und Neuer Musik wurde das Wechselspiel aus technisch apparativen und ideengeschichtlichen Bedingungen zu seinem Leitmotiv.
Nun schaltet sich das Horn, die weiße Göttin, ein. In langsamen Wellen fegt über Minuten ein großes, schönes und wachsendes „Weißes Rauschen“ über uns hinweg. Alles Gehörte, Gefühlte und Gedachte wird verwirbelt und aus der horizontalen Linie der Kugellautsprecher in die Vertikale geschleudert. Und trotzdem bleibt durch das „Weiße Rauschen“ alles andere hörbar und ortbar. Die Landschaft bleibt erkennbar und mir scheint, mein Hören ist in den 50 Minuten ein anderes geworden.
Etwas abseits des Lautsprecher-Kugel-Gitters steht eine alte Kamera. Man kann hineinschauen und sieht ein blasses Bild von einem Strand mit Wellen. „Travemünde“, sagt Jan-Peter E. R. Sonntag neben mir und grinst. „Da komme ich eben her, so wie alles hier.“
Tatjana Beyer
RUNDFUNK AETERNA ορχήστρα – a radio opera ist eine Produktion von N-solab in Kooperation mit Theater Freiburg unterstützt vom Hauptstadtkulturfonds. Die Installationsversion RUNDFUNK AETERNA X wurde im Februar diesen Jahres in zwei Hallen der Akademie der Künste in Kooperation mit der transmediale und dem ctm-Festival in Berlin erstmalig gezeigt. Die Komposition entstand im Auftrag der documenta14. Die Studio-Produktion mit ihren über 100 Spuren, die am Theater Freiburg das erste Mal auf die Bühne gebracht wird, wurde unterstützt von Deutschlandradio Kultur.
Musik / Klang-, Text-, Licht- und Raum-Komposition Jan-Peter E.R. Sonntag Dramaturgische Mitarbeit Tatjana Beyer Projektleitung Lars Gühlcke Technisches Team N-solab Jens Bakenhus (Schaltungstechnik), Maximilian Rummel (Video), Christian Schwarz (3D-Visualisierung)
Live-Solisten Lars Gühlcke (sonD-Kontrabass & Kontrabass), Theo Habicht (Kontrabass Klarinette) & ER (Audion-Radio-Schaltung & Bassposaune) Radio Studio / recording team Recording soloists Sam Ashley, voice; Axel Dörner, trumpet; Lars Gühlcke, sonDdouble bass; Robin Hayward, tuba; Theo Nabicht, contrabass clarinet; Oliver H. J. Sonntag. drums; Jan-Peter E. R. Sonntag, Transistor Radio and Audion Feedback Radio System; Tim Tetzner, tape re- corder; Michael Vorfeld, drums and DIY string instruments, Biliana Voutchkova, violin; postproduction: Jan-Peter E. R. Sonntag; dialogue director: Ulrike Klein; recording: Alexander Brennecke; production manager: Lars Gühlcke; production assistance: Anton von Heiseler
Installation team sonradiaGrid development & production N-solab concept & design Jan-Peter E. R. Sonntag circuit design Jens Bakenhus metal construction Eike Döring production manager Lars Gühlcke assistant Maximilian Rummel video documentation Anton von Heiseler
Jan-Peter E. R. Sonntag (*1965) ist Künstler und Komponist. Er studierte Bildende Kunst, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Komposition, Philosophie und Kognitionswissenschaft (u. a. bei Rudolf zur Lippe, Ivan Illich, Umberto Maturana, J.P.S.Uberoi, Gert Selle, Gertrud Meyer-Denkmann, Wolfgang Martin Stroh and Gustavo Becerra Schmidt; Workshops bei Phil Corner, Vinco Globokar, Albert Mangelsdorf, Ray Anderson, John Cage, Alvin Lussier). Er war Assistent von Mauricio Kagel, Assistent von Rudolf zur Lippe und arbeitete mit bei Performances von Franz Erhard Walther. 1993-95 Kurator bei der Stiftung Weimarer Klassik für Experimentalmusik und Kunst im Dialog mit der Philosophie von Friedrich Nietzsches. Er ist Mitbegründer von ohTon, Oldenburg; unerhört, Bremerhaven und hARTware-Projekte, Dortmund und gründete 2002 Nsolab. ER hatte Lehraufträge der Universitäten in Hamburg, Istanbul, Rotterdam, Z_HDK Zürich, UdK Berlin, Semana del Sonido Bogota and Mexico City, Arbeitstagung für Neue Musik in Darmstadt, ART & SCIENCE / University Beijing und lehrt an der Bauhaus Universität in Weimar. Er war Stipendiat der Akademie Schloss Solitude und der Villa Aurora und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Deutschen Klangkunstpreis, den CYNETART Award und den emare-Mexiko-Grant.
Seine vorwiegend raumbezogene Werke werden weltweit gezeigt und aufgeführt. Auswahl: V2 & duende, Rotterdam; NIMK, Amsterdam; Making Waves Festival, San Francisco; Apex Art & The Kitchen, New York; Fundcion Arte Y Technologia, Madrid; Centre Cultura Contemportnia & METRONOM, Barcelona; Nacional Gallery, Poznan; sonambiente, transmediale, tesla, SAVVY, Künstlerhaus Bethanien, Deutsche Bank Kunsthalle, Akademie der Künste, Tieranatomisches Theater, Berlin; Mediabiennale, Seoul Museum of Art, & Aram Art Gallery, Seoul; Laboral Centro de Arte y Creatión Industrial, Gijon; Center for Contemporary Art, Torun; MKG, kampnagel, Galerie der Gegenwart & Kunstverein, Hamburg; Museum Centro Calego de Arte Contemporénea, zkm, Karlsruhe; Santiago de Compostela; ars electronica, Linz; Biennale D-0 ARK / Titos Bunker, Konijc; CYBERFEST, Hermitage, St.Petersburg; HMKV, Dortmund; WKV & Staatsgallery, Stuttgart, Manif de Art, Quebec; China Science & Technology Museum, Beijing; Elektra, Montreal; Tent, London. Darüber hinaus schuf er mehr als einhundert ortspezifische Installationen, vier Kammeropern und zwölf Kompositionen für Theater. Seit 2013 ist er zusammen mit Sebastian Döring der Herausgeber der Schaltungsnotate für Friedrich Kittler Gesammelte Schriften.
2015 realisierte er auf Einladung des Württembergischer Kunstverein Stuttgart seine erste Retrospektive - Rauschen, zu der gerade eine Box mit LP und Buch im MERVE-Verlag veröffentlicht wurde. 2017 realisierte er RUNDFUNK AETERNA ορχήστρα – a radio opera im Auftrag der documenta 14., die Anfang 2019 als Installationsversion in Zusammenarbeit mit der transmediale und ctm in der Akademie der Künste in Berlin realisiert wurde, sowie als Bühnenversion am 20. Juni 2019 am Theater Freiburg seine Uraufführung haben wird.