Lieber Uwe, du gehörst ja zu einer Gruppe von Künstler_innen, die die Entstehung und Entwicklung der Performanceszene im New York der 80er Jahre entscheidend mitgeprägt haben. Und dein persönliches Interesse gilt und galt ja auch schon damals vermehrt der Kombination von Ausstellungsformaten und Erzählungen, weshalb ich deine Arbeiten gerne „narrative Installationen“ nenne. Kannst du unseren Zuschauer_innen erklären, was es damit auf sich hat?

Ich betrachte meine Performances unter zwei Aspekten. Erstens: Die Besucher_innen erleben einen Raum, in dem sich vier skulpturale Elemente befinden, bestehend aus vier Röhren/Kabinen, in deren Innenräumen sich je eine lebende Skulptur (Schauspieler_in) aufhält. Der Besuch soll an einen Galeriebesuch erinnern, darum ist es auch den Besucher_innen freigestellt, wann sie innerhalb der „Öffnungszeit“ von zwei Stunden kommen und gehen und wie lange sie bleiben wollen. Alle vier lebenden Skulpturen verbindet eine gemeinsame Geschichte, in unserem Fall der Tod der Ophelia (aus dem Hamletdrama von Shakespeare). Jede_r der vier ist in diese Geschichte verwickelt. Jede_r der vier wartet darauf, von den Besucher_innen befragt zu werden. Für diese Fragen gibt es keine Vorgaben. Als Besucher_in entscheide ich selbst, was mich interessiert und was für Fragen ich stelle. Kreuzverhöre sind willkommen.

Zweitens: Aus dieser Freiheit entsteht die narrative Struktur, denn jede_r Fragende erlebt so seine je eigene Performance. Sollte ich in Kabine drei einen Widerspruch entdecken zu dem, was mir in Kabine eins gesagt wurde, kann ich gern zur lebenden Skulptur in Kabine eins zurückgehen und sie damit konfrontieren. Die Performance lebt und entwickelt sich durch und aus dem Gespräch zwischen den Performer_innen und den Besucher_innen. Wie viele Besucher_innen sich jeweils in einer Kabine aufhalten, entscheiden die Besucher_innen selbst.

Wie bist du auf die Idee gekommen, dich mit einem solchen Format auseinanderzusetzen? Was interessiert dich daran und was macht es so besonders?

Wie ich auf die Idee gekommen bin, weiß ich leider auch nicht mehr. Die Idee war irgendwann einfach da. Es gab da, lange her, in der South Bronx eine Galerie namens „Fashion Moda“ – das war nichts weiter als ein leeres Ladengeschäft. Die South Bronx war damals die zerstörteste Stadtlandschaft, die es je ohne einen Krieg gegeben hat: brennende und verlassene Häuser, Drogen und Kriminalität ohne Ende.

Die Tür zur Galerie stand immer offen. Die Betreiber_innen, zu denen eine Zeitlang auch Jenny Holzer gehörte, hatten nicht die Idee, den Armen und Unterdrückten Kunst nahe zu bringen. – Damit hätte die Galerie auch nicht lange überlebt. Sie zeigten einfach, was sie wollten. Mal kam nur die Kunstszene, mal mischte es sich mit den Bewohner_innen der South Bronx. Mir kam die Idee, den alltäglich zu erlebenden Mord und Totschlag in einer interaktiven Performance zu thematisieren.

Warum interaktiv?

Wahrscheinlich speiste sich die Idee aus den Erfahrungen, die ich als Leiter für Interaktionstraining in meiner Westberliner Zeit gemacht hatte. Wir trainierten im Auftrag des Berliner Gesundheitssenators zukünftige Führungskräfte der Berliner Krankenhäuser in Selbst- und Fremdwahrnehmung. Dazu wurden sie drei Tage in einem sehr schlicht eingerichteten Haus mehr oder weniger interniert und den verschiedensten Situationen ausgesetzt. Die Übungen zur Frustrationsbewältigung waren eine besondere Herausforderung.

Und so ist dann deine Performance MORD IM ALLTAG entstanden, oder?

Ganz genau. – Das klingt heute etwas seltsam, aber damals kamen die New Yorker Performancekünstler_innen aus den unterschiedlichsten Berufen. Ein Studium für performing arts gab es noch nicht. Viele kamen von den bildenden Künsten. Ich habe dann vier Performer_innen gesucht, die sich in vielen Einzelgesprächen mit mir in ihre Figuren eingearbeitet haben.

Im Fenster der Galerie lag eine Leiche (übrigens harte Arbeit, zwei Stunden bewegungslos zu liegen) und auf der Straße sprachen Helfer_innen die Passanten an, ob sie nicht Lust hätten zu erfahren, was es mit der Leiche auf sich habe. Und so kamen sie herein und befragten und stritten sich mit den vier Betroffenen. Der Mörder war einer der vier. Selbstverständlich wusste ich vorher nicht, ob dieses partizipative System funktioniert. Sehr schnell stellte sich heraus, dass es keinen Unterschied macht. aus welchem sozialen Umfeld die Besucher kamen, ob downtown artscene oder Sozialempfänger aus der South Bronx. Dieses damals noch von mir interaktiv genannte System meiner Performance war für alle gleichermaßen offen und interessant.

Garten des Todes

Bis jetzt hast du bei deinen Projekten ja vornehmlich Räume kreiert, die sich mit Alltagsphänomenen oder gesellschaftlichen Entwicklungen beschäftigen (Mord, Erbschaftsstreitigkeiten etc.). Wie kommt es, dass du dich mit OPHELIAS SCHWESTER jetzt mit einem dramatischen Text befassen möchtest? – Und wieso gerade mit dem Hamlet-Material?

Dazu möchte ich ein Wenig die „Hintergrundmusik“ zu OPHELIAS SCHWESTER beschreiben: In jener Zeit wurde auf einmal alles anders, die Dänen waren erst ein paar Jahrhunderte christianisiert, die nordischen Götter waren noch nicht ganz vergessen, da brach über sie eine neue Religion herein: Die Reformation Luthers. Plötzlich waren die heiligen Werte der katholischen Kirche Plunder von gestern, Kirchen wurden gestürmt und Bilder und Statuen zerstört. Es herrschte Aufbruchsstimmung. Es hieß: Jetzt ist der Mensch endlich frei, endlich ein freier Christ. Das goldene Zeitalter sei endlich angebrochen, hieß es. Zu dieser Zeit besuchte Hamlet die neu gegründete protestantische Universität in Wittenberg. Und von dort kamen Ideen, die auch Könige und Fürsten von Gottes Gnaden ins Wanken brachten. Eine ähnliche Kraft und politische Wucht hat erst Jahrhunderte später der Marxismus wieder erreicht. Die Menschen damals waren getrieben von Hoffnung und Zweifel. Man stellte sich einen Scheck auf die Zukunft aus, hoffend, dass die Bank nicht bankrott ging. Und man versuchte so gut es ging, zu leben, zu lieben, zu morden und zu sterben. Das alles in Kontrast zu unserer Zeit zu stellen, die alle Utopien hinter sich gelassen hat, finde ich spannend.

Was möchtest du unseren Zuschauer_innen entsprechend mit auf dem Weg geben?

Kommen Sie und fragen Sie! Im Literaturhaus stehen vier Kabinen, in denen je eine der vier Figuren aus dem Drama HAMLET sitzt und sich auf ein Gespräch mit Ihnen freut. Eine von ihnen ist Ophelias Schwester, die es in Shakespeares HAMLET nicht gibt. – Wie das? Nun, die vier sind Untote und es hat sie tatsächlich gegeben. Und alle vier haben eine kritische Haltung zu dem Drama, das Shakespeare über ihren Königshof geschrieben hat. Sie wissen, wie es wirklich war.

Ob Sie das Drama HAMLET kennen oder nicht, ist nicht wichtig. Sie selbst entscheiden, welche der Kabinen Sie betreten wollen, ob Sie Fragen stellen oder zuhören wollen, was andere für Fragen stellen. Sie können fragen was Sie wollen und so viel Sie wollen. Die vier sind mehr als bereit, über ihr Leben vor dem Tod zu reden, über Konflikte untereinander, über Krieg, über Sex und Liebe, über Neid, Hass und Mord, über die verhassten Katholiken, über ihre Hoffnungen und Ängste. Und da es sich um Untote handelt, ist ihnen die Welt, in der wir heute leben, natürlich ebenfalls durchaus bekannt und auch zu ihr haben sie eine klare Meinung. Wahrscheinlich keine gute …

Die Performance findet zwischen 18 und 20 Uhr statt (09.-12. Juli 2019, täglich im Literaturhaus Freiburg), und in dieser Zeit können Sie jederzeit kommen und gehen. Sie entscheiden, wann für Sie die Performance beginnt und wann sie endet.

Das Interview führte Tamina Theiß.

Portrait

Foto: Uwe Mengel

UWE MENGEL

Uwe Mengel wurde in Bergen/Rügen geboren. Er studierte Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Nach seiner Flucht aus der DDR setzte er sein Studium an der Freien Universität Berlin-West und am Max-Reinhardt-Seminar in Wien fort. Er schloss sein Studium mit einem M.A. in Theaterwissenschaft, Theologie und Philosophie ab. 1980 emigrierte er nach New York und lebt seit 1998 in Berlin und New York.

Uwe Mengel begann interaktive Crossmedia-Projekte in der DDR zu kreieren, darunter die Performance VEREIN ZUR VERBREITUNG DES ERDFLACHHEITSGEDANKENS UND ZUR BEKÄMPFUNG DES  ABSURDEN ERDRUNDHEITSGEDANKENS, die nach der ersten Vorstellung verboten wurde. Später schuf er Performances in ganz New York, von leeren Läden in der South Bronx über das Whitney Museum of American Art, auf einer Sanddeponie am Hudson River, bis hin zum Battery Park in Lower Manhattan.

Er präsentierte seine einzigartigen partizipatorischen Formate auf Theaterfestivals von Melbourne über Zürich und Berlin bis San Antonio in Texas und erhielt weltweit zahlreiche Einladungen zu Vorträgen, Seminaren und Workshops.

Mit OPHELIAS SCHWESTER kreiert er seine erste Arbeit am Theater Freiburg. Partner und Aufführungsort ist das Literaturhaus Freiburg.