IM GESPRÄCH MIT REGISSEUR
AMIR REZA KOOHESTANI ÜBER ARNOLD WESKERS
„DIE KÜCHE“

Arnold Weskers selten gespieltes Werk DIE KÜCHE könnte zu den Vorschlägen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gehören, die z. Zt. für einen „alternativen Spielplan“ selten gespielte, oft vergessene Dramen vorstellt und deutschen Bühnen zur Wiederentdeckung empfohlen werden. Wie bist Du auf dieses Stück gekommen?

Amir Reza Koohestani: Ich war vor einigen Jahren in London in Residenz am Royal Court Theatre, und dort lernte ich die Werke vieler britischen Dramatiker aus der Generation von Arnold Wesker kennen, jener „angry young men“, die das Autorenprogramm des Royal Court mitbegründeten. Da habe ich unter anderem auch DIE KÜCHE gelesen.

Was hat Dich an dem Stück und dem Stoff interessiert?

Amir Reza Koohestani: Offen gesagt hat es mich damals gar nicht so sehr interessiert: Ich fand es verwirrend und anstrengend, dieses Stück mit 30 verschiedenen Figuren zu lesen und mir ihre Namen, ihre Handlungen und ihre Beziehungen zu merken. 2007 kam ich erneut nach England, um in Manchester zu studieren und eine Doktorarbeit zu schreiben. Ich musste nicht allzu viele Lehrveranstaltungen besuchen und hatte Zeit, nach London zu fahren und dort in Bibliotheken zu recherchieren. Da stieß ich dann erneut auf Weskers Werke. Als Regisseur bin ich eher ein intuitiver Mensch: Ich habe ein Ingenieurstudium absolviert und mir fehlte damals eine akademische Theaterausbildung und eine klare konzeptionelle, ästhetische Vorstellung vom Theater. Aber in England begann ich mich sowohl mit zeitgenössischen Theaterformen und -theorien als auch mit Sozialwissenschaften und Philosophie zu beschäftigen. In Manchester besuchte ich zahlreiche gemeinsame Kurse mit Studierenden der Angewandten Theaterwissenschaften, die Aufführungen mit Strafgefangenen oder Obdachlosen entwickelten. Und da begegnete ich erneut Arnold Weskers „social plays“, die allerdings damals so gut wie nicht mehr gespielt wurden. 2011 gab es dann aber eine große Neuproduktion der KÜCHE im National Theatre – übrigens von Bijan Sheibani, einem englischen Regisseur mit iranischen Wurzeln inszeniert. Das habe ich alles mit Interesse verfolgt. Aber zu dem Zeitpunkt hätte ich nie daran gedacht, selbst ein Stück von Wesker zu inszenieren: In der Regel schreibe ich ja meine eigenen Stücke oder überschreibe allenfalls einen Tschechow … Das habe ich im Iran in den folgenden Jahren getan, auch, als ich 2015 ans Theater Oberhausen eingeladen wurde oder später an die Münchner Kammerspiele. Eines Tages aber erzählte mir Mohammadhassan Madjouni, ein Schauspieler, mit dem ich mehrere Produktionen gemacht habe, dass er mit Schauspielstudierenden DIE KÜCHE von Wesker realisiert: Er habe eine große Klasse zu unterrichten und deshalb ein Stück mit möglichst vielen gleichwertigen Rollen gewählt. Ich sah also zum ersten Mal eine Aufführung von DIE KÜCHE, mit iranischen Schauspielstudierenden. Madjouni ließ allerdings den Aspekt weg, dass es bei Wesker unter den Köchen deutsche Immigranten gab: Für ein iranisches Publikum wäre das nicht von Interesse gewesen. Ihn beschäftigte mehr der soziale Aspekt des Stückes, die Ausbeutung des Küchenpersonals, die Arbeitsbedingungen, etc. Im Iran haben wir nicht dieses westliche kapitalistische System, keine großen Konzerne, sondern eine den Sanktionen geschuldete lokale Version des Kapitalismus und iranische Formen der Ausbeutung. Das ist aber nicht diese große kapitalistische Maschine …

Da kommen wir zu einem anderen Aspekt, der Dich an Weskers KÜCHE fasziniert: Es ist ein Stück, das keine der zahlreichen Figuren und Beziehungen von Anfang bis Ende auserzählt, sondern uns nur kleine Hinweise und plötzliche Eindrücke von ihnen bietet und so unsere eigene Fantasie in Gang bringt. In der Summe ergibt sich aber das Bild einer kapitalistischen Maschine, in der all diese Figuren gefangen sind.

Amir Reza Koohestani: Genau. Ich habe also den Text erneut gelesen und festgestellt, dass dies ein sehr interessantes Stück für deutsche Theater ist: Es handelt von deutschen Migranten nach dem Zweiten Weltkrieg, von den Arbeitsbedingungen, unter denen Menschen in Restaurantküchen arbeiten, und zugleich ist diese Küche, diese „Fabrik“, ein Mikrokosmos, in dem metaphorisch eine kapitalistische Gesellschaft dargestellt wird. Mich interessiert dieses Gesellschaftsbild mit all den vielen Figuren, von denen jede eine eigene, wenn auch nur angedeutete Geschichte hat.

Wie zum Beispiel Paul, der Patissier, den Hans, einer der deutschen Migranten, in der Mitte des Stücks unvermittelt als „Juden“ anspricht. Das wird nie vertieft. Sofort fragt man sich aber, was Pauls Geschichte sein könnte: Stammt er vielleicht auch aus Deutschland? Wie und wo hat er den Holocaust erlebt und überlebt? Und was denkt eigentlich Hans, der im Dritten Reich noch ein Kind war, über Juden und die deutsche Schuld?

Amir Reza Koohestani: Victor Calero hat mir zu seiner Figur „Nicholas“ eine ganze Biografie beschrieben, die er aus den wenigen Informationen im Stück entwickelt hat. Die Schauspieler_innen haben die weißen Flecken ihrer Figurenbiografien ausgefüllt. Das hat mich sehr begeistert in der Arbeit mit dem Freiburger Ensemble.

Deine ursprüngliche Idee war, Weskers Stück in die deutschen Gegenwart zu übertragen, in die Küche eines Freiburger Restaurants im Jahr 2019, in der Migranten aus arabischen, afrikanischen oder asiatischen Ländern arbeiten.

Amir Reza Koohestani: Das haben wir aber sehr schnell aufgegeben. An DIE KÜCHE interessiert mich viel mehr, dass es uns daran erinnert, wie sich vor nicht allzu langer Zeit Arbeitsmigranten aus europäischen Ländern in genau derselben Situation befanden wie viele Immigranten aus anderen Kontinenten heutzutage …

… dass sich zum Beispiel deutsche Migranten 15 Jahre nach Kriegsende in einer englischen Restaurantküche wiederfanden, wo sie nicht gerade willkommen waren …

Amir Reza Koohestani: … und sich mit den gleichen Fragen und Problemen wie Migranten heute herumschlagen mussten. Alle nennen Peter in der Küche einen „German bastard“. Wenn deine Nationalität ein Fluch ist, bist du gezwungen, sie zu verleugnen, weil du ansonsten mit erheblichen Vorurteilen konfrontiert wirst. Es geht nicht darum, ob du persönlich Schuld auf dich geladen hast oder nicht. Du wirst aufgrund deiner Zugehörigkeit zu einer Nationalität haftbar gemacht für die Verbrechen, die andere aus deinem Land begangen haben. Das ist nicht so lange her, knapp sechzig Jahre. Ich empfand es als spannender, das Stück mit seinen historischen Gegebenheiten im Jahr 1960 zu belassen, denn das Publikum wird schon von selbst den Bezug zur Gegenwart herstellen, ohne dass wir das überdeutlich betonen.

Ein anderer Grund dafür, die Handlung nicht in die deutsche Gegenwart zu versetzen, war, dass wir ein sichtbar deutsches Ensemble haben. Aber wir haben zwei Schauspieler engagiert, deren Muttersprache nicht Deutsch ist: Auf diese Weise schlagen wir den Bogen in die Gegenwart … Zudem entsprechen wir dadurch dem englischen Originaltext von Arnold Wesker, in dem die Dialoge zwischen Peter und Hans auf Deutsch verfasst sind. Diese Mehrsprachigkeit geht durch die Übersetzung ins Deutsche natürlich verloren; wir holen sie zurück, indem der Fischkoch Kevin, gespielt vom südafrikanischen Schauspieler Lukhanyo Bele, eine Mischung aus Englisch und Deutsch mit hörbarem Akzent spricht.

Die Küche Impression: Menschen sitzen am Tisch
DIE KÜCHE // Anja Schweitzer // Victor Calero // Angela Falkenhan // Lukhanyo Bele // Henry Meyer // Foto: 2019 // Birgit Hupfeld
Die Küche Impression: Köche
DIE KÜCHE // Lukhanyo Bele // Henry Meyer // Lukas Hupfeld // Stefanie Mrachacz // Martin Hohner // Hartmut Stanke // Foto: 2019 // Birgit Hupfeld
Die Küche Impression: Köche
DIE KÜCHE // Lukas Hupfeld // Thieß Brammer // Lukhanyo Bele // Martin Hohner // Foto: 2019 // Birgit Hupfeld
Die Küche Impression: Köche
DIE KÜCHE // I.V. Lukas Hupfeld // Thieß Brammer // Martin Hohner // Foto: 2019 // Birgit Hupfeld
Die Küche Impression: Servierszene
DIE KÜCHE // Rosa Thormeyer // Angela Falkenhan // Anja Schweitzer // Foto: 2019 // Birgit Hupfeld
Die Küche Impression: Menschen sitzen am Tisch
Die Küche Impression: Köche
Die Küche Impression: Köche
Die Küche Impression: Köche
Die Küche Impression: Servierszene

Amir Reza Koohestani: Das gehört für mich zu den erstaunlichsten Aspekten von Weskers Stück, das ja Ende der fünfziger Jahre geschrieben wurde: Zu jener Zeit bestand die Kunstform Theater noch in erster Linie aus dem Drama, dem geschriebenen Text, der adäquat auf der Bühne dargeboten werden musste – in England noch mehr als anderswo.

Aber Arnold Wesker hatte keinerlei Ausbildung für das Theater. Er entstammte der Unterschicht, der Arbeiterklasse. Als er gefragt wurde, welche anderen Dramatiker und Stücke ihn beeinflusst hätten, antwortete er: Keine. Er habe nie Theateraufführungen besucht, Theater sei etwas für die Mittel- und Oberschicht gewesen, er sei ausschließlich ins Kino gegangen. Das erklärt, warum seine Dialoge eher wie banale Alltagssprache und seine Stücke eher filmisch wirken.

Amir Reza Koohestani: Aber er hat diese Texte wie DIE KÜCHE eben nicht fürs Kino, sondern fürs Theater geschrieben. Wesker hatte offenkundig eine sehr eigene Vorstellung, wie Theater sein müsse. Ich kenne das vom Royal Court Theatre: In England steht der Dramatiker im Zentrum, er ist ein Gott und die Aufführung seines Werkes ein Gottesdienst, den die Schauspieler und der Regisseur durchführen. Der Dramentext muss korrekt gesprochen werden, schließlich handelt es sich um Literatur. Und dann kommt Arnold Wesker und bringt die gebrochene, grammatikalisch zum Teil fehlerhafte Alltagssprache von Menschen aus unterschiedlichsten Ländern auf die Bühne.

Das entsprach der Idee der „angry young men“ wie Arnold Wesker und John Osborne: Soziale Wirklichkeit in Gestalt eines Naturalismus auf britische Bühnen zu bringen, indem man die Figuren keine vom Autor gestaltete Kunstsprache sprechen lässt, sondern durch Dialekte und Akzente Wahrhaftigkeit erzeugt.

Amir Reza Koohestani: Aber das ist dann eben keine literarische Sprache mehr wie bei Shakespeare oder auch bei Weskers Zeitgenossen Harold Pinter. Ich habe vor kurzem mit dem iranisch-österreichischen Autor Amir Gudarzi gesprochen, dessen neuer Text für diesjährigen Berliner Stückemarkt nominiert wurde. Er erzählte mir, dass er von einigen Theatern, denen er seine deutschsprachigen Stücke zugeschickt hatte, diese korrigiert zurück bekam: Den Dramaturgen war nicht bewusst, dass die vermeintlichen sprachlichen „Fehler“ ein Stilmittel des Autors waren und seine eigene Umgangssprache in Wien widerspiegelten. Selbst in multikulturell aufgestellten Theatern wie den Münchner Kammerspielen oder dem Maxim Gorki Theater in Berlin, muss man dem Publikum heutzutage bei Verwendung fremder Sprachen deutsche Übertitel anbieten, damit alles verstanden werden kann. Aber Wesker scherte sich damals nicht darum, dass sein Londoner Publikum bei DIE KÜCHE die deutschsprachigen Dialoge nicht versteht.

Das entspricht auch Deiner Vorstellung vom Umgang mit Dialogen in Deinen Inszenierungen, ob bei Deiner Überschreibung von Tschechows KIRSCHGARTEN oder jetzt bei DIE KÜCHE: Für Dich ist es meist nicht so wichtig, was die Figuren sagen, als wie sie es sagen: Die Haltung dahinter, das einander ins Wort fallen, das plötzliche Schweigen, die verbalen Ausbrüche …

Amir Reza Koohestani: Im Theater geht es doch eher um Atmosphären, um Situationen. Im Theater zeigt man dem Publikum die gesamte Szenerie in einer Totalen, mit Figuren im Vordergrund, mit Figuren im Hintergrund, und alles passiert gleichzeitig. Durch diese Gleichzeitigkeit kann ich so viel mehr ausdrücken als in den Dialogen. Jedenfalls ist das mein Ansatz. Du kannst Dir also vorstellen, wie erstaunt ich war, als ich DIE KÜCHE auf Englisch wieder las und feststellte, dass es für die deutschen Dialoge nicht einmal Fußnoten gab, so dass man als des Deutschen nicht mächtiger Leser keine Ahnung hat, worüber die Figuren Hans und Peter da reden.

Wesker ist es offensichtlich wichtig, dass die beiden Figuren ihre eigene Sprache sprechen und dass diese Sprache von den Anderen nicht verstanden wird, dass sie ein Geheimcode ist. Zugleich empfinden die Anderen das Deutsch als Provokation: Der Fleischer Max herrscht sie an, sie sollen „bloody English“ reden.

Amir Reza Koohestani: Mich erstaunt, dass Wesker bereits Ende der fünfziger Jahre Sprache als Ausdrucksmittel jenseits des Inhalts der Dialoge verwendet: Es geht ihm nicht um eine Botschaft, sondern um den Klang, die Musikalität der Sprache. Wenn der armenische Schauspieler Vardan Arzumanjan als „Landstreicher“ auf Deutsch mit Akzent um Essen bettelt und über Spaghetti Bolognese spricht, ist der Text, der Inhalt doch nicht so wichtig: Wichtig ist, dass ein Obdachloser versucht, sich mit seinen Genossen aus der gleichen Klasse, mit anderen unsichtbaren Menschen am Rande der Gesellschaft zu verständigen.

Wenn der Obdachlose über Spaghetti Bolognese redet, weist dies aber auch darauf hin, dass er eine Vorstellung von gutem Essen hat – verglichen mit dem, was die englische Küche um 1960 zu bieten hatte. Vielleicht hat er bessere Zeiten erlebt? Und das Lachen der Köche über seine Frage zeigt, wie weit sie in dieser Küche von einem Anspruch entfernt sind, gut zu kochen, wie weit sie von ihrer Arbeit entfremdet sind. Wesker war ja Mitglied der kommunistischen Jugend in England, ein überzeugter, allerdings auch skeptischer Sozialist. Hier beschreibt er nicht nur ein migrantisch geprägtes Milieu, sondern auch einen Mikrokosmos der Arbeitswelt und die dort herrschende Ausbeutung. Doch DIE KÜCHE ist alles andere als eine Verklärung der Solidarität innerhalb der Arbeiterklasse; Wesker wirft im Gegenteil einen sehr pessimistischen Blick auf das Miteinander in dieser kapitalistischen Maschinerie. Von Solidarität ist da wenig zu spüren.

Amir Reza Koohestani: Nein, es ist nicht gerade ein sowjetisches Agitpropdrama. Aber das macht sein Werk auch heute noch interessant. Die Hauptfigur Peter – wenn man denn bei diesem Ensemblestück von einer Hauptfigur reden kann – ist ja nicht gerade sympathisch gezeichnet. Eigentlich sollte er ein Bewusstsein haben für diese Maschine und für das, was sie mit den Menschen darin macht. Aber wenn Kevin ihn um ein Schneidebrett bittet, verweigert er es ihm. Jeder kämpft für sich allein.

Auch Paul verweigert seinem Kollegen ein Stück frischen Kuchen. Immerhin wundert er sich über sich selbst, warum er das Eigentum seines Chefs verteidigt, als wenn es sein eigenes wäre. Ihm ist bewusst, dass sie alle nur kleine Rädchen in dieser Maschine sind, die jederzeit ersetzt werden können.

Amir Reza Koohestani: Auch in Pauls Geschichte über den Busfahrer macht Wesker deutlich, dass es in der Arbeiterklasse keine Solidarität gibt, dass jeder nur an seinen eigenen Vorteil denkt. Aber wenn wir über den Kapitalismus reden, dann sprechen wir ja nicht nur von den Reichen. Im Kapitalismus gibt es Hierarchien, die bis nach unten gehen. Wenn Du später als ein anderer in so eine Maschine gerätst, musst du dich erstmal hinten anstellen. Da gibt es nicht nur den Besitzer des Restaurants Marango, es gibt den Chefkoch, dann gibt es Maggie, dann Monique …

Eine Hackordnung.

Amir Reza Koohestani: Als Kevin neu in diese Küche kommt, will Peter ihn zu seinem Gehilfen machen und ihm einen Teil seiner Arbeit übertragen. Das kennen wir doch sehr gut: Das System wird dich ausschließen, wenn du dich nicht einfügst und anpasst. Nur dann kannst du in diesem System aufsteigen.

Aber vergiss nie: Jeder ist ersetzbar!

Amir Reza Koohestani: Selbstverständlich. Ich weiß nicht, inwieweit wir das Ende verraten sollen … Am Ende sagt Marango zwar: „Du hast meine ganze Welt zerstört!“ Aber 2019 wissen wir, dass diese Maschine niemals stillsteht, dass sie keiner stoppen kann.

Wesker zeigt in DIE KÜCHE eine streng hierarchisch geordnete Welt, in der mit einer Ausnahme alle Köche Männer und die Frauen lediglich als Kellnerinnen tätig sind. Auch das hat sich in der Gastronomie in den 60 Jahren nicht grundlegend geändert. Unsere Schauspielerinnen haben sich über diese Rollenzuschreibung im doppelten Sinne zu Beginn der Proben beschwert.

Amir Reza Koohestani: Und das völlig zu Recht. Mich hat es wirklich überrascht, dass die Strukturen in der Gastronomie sich seit den sechziger Jahren nicht wirklich verändert haben. Aber es gibt da auch einen anderen Aspekt: Als Student in Manchester habe ich mich um einen Job bemüht. In der Arbeitsvermittlung wurde mir mitgeteilt, dass es nicht so einfach sei, für mich als Mann aus dem Mittleren Osten was zu finden. „Für Frauen gilt das nicht?“, habe ich gefragt. „Nein, Frauen aus islamischen Ländern werden von den Kunden gerne als Verkäuferinnen bei Marks & Spencer oder anderen Kaufhäusern gesehen“, sagte man mir. Ein Grund, dass auch in heutigen Restaurantküchen so viele männliche Migranten arbeiten, ist sicherlich auch, dass sowohl die Gäste als auch die Migranten es vorziehen, dass letztere unter sich und unsichtbar bleiben. In der Küche kommen sie nicht in direkten Kontakt mit den Kunden.

Hier geht es zum making of der Inszenierung „Die Küche“:

Part eins:

Part zwei:

DIE KÜCHE // Lukhanyo Bele // Tim Al-Windawe // Martin Hohner // Stefanie Mrachacz // Foto: 2019 // Birgit Hupfeld

Etwas hat sich aber doch geändert, seit Wesker DIE KÜCHE geschrieben hat. Heutzutage wäre so ein auf Massenabfertigung ausgerichtetes Restaurant wohl Teil einer Kette, eines Konzerns, dessen Manager man nie zu Gesicht bekäme. Wesker gibt dem Besitzer des Restaurants, dem Kapitalist Mister Marango, ein Gesicht.

Amir Reza Koohestani: Das stimmt. Der heutige Kapitalismus versucht sein Gesicht und die Besitzverhältnisse zu verbergen. Bei Wesker hingegen wirkt die Verkörperung des Kapitalismus beinahe unschuldig …

Der Rebell Peter beschreibt Marango sogar auch als Opfer dieser Maschine: „Er ist ein Restaurant“, heißt es über dessen Besitzer.

Amir Reza Koohestani: Er ist ein einsamer Mensch. Und es stimmt, was Marango am Ende sagt: Seine ganze Welt ist zerstört, weil er nichts Anderes im Leben hat als dieses Restaurant, dass er nie verlassen kann. Keiner mag ihn …

Du hast gesagt, dass Weskers KÜCHE Dich an die Stücke von Anton Tschechow erinnert. Inwiefern?

Amir Reza Koohestani: Zum Beispiel die Art und Weise betrifft, wie Sprache eingesetzt wird. In einer Szene von IWANOW schrieb Tschechow einen Dialog für ein Kartenspiel. Normalerweise würde ein Autor in einer Regieanweisung schreiben, dass die Figuren Karten spielen und ab und an Ansagen machen, aber Tschechow hat tatsächlich jede einzelne Ansage Wort für Wort formuliert. Er macht sich die Mühe, alle Details der alltäglichen Situationen und die Dialoge – so bedeutungslos sie inhaltlich auch sein mögen – präzise zu beschreiben.

Das macht Wesker in der zentralen Bestell- und Servierszene von DIE KÜCHE genauso: Jede einzelne Bestellung, die von den Kellnerinnen an die Köche weitergegeben und von letzteren wiederholt wird, ist bei ihm Wort für Wort formuliert. Wir haben im ersten Anlauf versucht, uns genau daran zu halten, um festzustellen: Es ist völlig unwichtig, was da im Einzelnen bestellt wird und auch, welche Streitigkeiten die Köche in dieser Stresssituation miteinander austragen.

Amir Reza Koohestani: Es geht tatsächlich vor allem um Rhythmus und Tempo. Wesker hat DIE KÜCHE wie ein Musikstück komponiert. Es geht ihm um die wechselnden Stimmungen und den Kontrast zwischen langsamen und schnellen, lauten und ruhigen Szenen. Außerdem beschreibt DIE KÜCHE ähnlich wie die Stücke von Tschechow das Alltagsleben, wie eine immer gleiche Routine Langeweile und Agonie hervorruft und das Leben der Figuren allmählich vergiftet. Wie Tschechows Figuren in DREI SCHWESTERN, DER KIRSCHGARTEN oder ONKEL WANJA schaffen es diese Köche und Kellnerinnen nicht, aus diesem Leben, aus dieser Maschine auszubrechen. Vielleicht gibt es für sie ja gar keine Alternativen? Aber sie haben auch keine Träume mehr, wie wir in einer Szene erfahren – und wenn, dann sind ihre Träume trivial und bedeutungslos.

Das Gespräch führte Rüdiger Bering.