Wie seid ihr auf die Idee gekommen, SHOCKHEADED PETER – STRUWWELPETER, ein Musical der britischen Band The Tiger Lillies, zu inszenieren?
Es ist bei uns immer ein langer Prozess, solche Stücke zu finden. Wir – also das Leitungsteam Emma Louise Jordan, Nikolaus Reinke und ich – arbeiten seit Jahren zusammen und wir alle drei finden es bei der Arbeit mit Jugendlichen wichtig, dass sie irgendetwas von ihrer eigenen Erfahrung mit einfließen lassen können. Das heißt, dass wir auch bei der Suche nach neuen Stücken darauf achten, dass sich die Jugendlichen mit dem Stoff identifizieren können und keine erwachsenen Rollen spielen – also keine Erfahrungen auf der Bühne erzählen müssen, die sie noch nicht erlebt haben. Bei sehr skurrilen Stücken kann das funktionieren, trotzdem möchte ich nicht, dass eine 16-Jährige die ernsthafte Rolle einer 45-Jährigen übernimmt.
Das schränkt die Auswahl der Stücke sehr ein, da die meisten Musicals auf Rollen für 30- bis 50-Jährige ausgelegt sind. In diesem Fall haben wir mehrere Stücke angeschaut, von denen wir dachten, sie könnten funktionieren und haben uns irgendwann auf SHOCKHEADED PETER geeinigt, allein weil es so skurril und die Geschichte an sich auch recht bekannt ist. Als die Auswahl feststand, haben viele gesagt, dass der Stoff zu dunkel sei, aber unser Ziel war es auch, das Publikum das Stück neu entdecken zu lassen. Dazu die Musik von The Tiger Lillies: Sie ist etwas ganz Besonderes, auch ein bisschen trashig, und das passt ganz gut zu dieser Geschichte, die sowieso schon etwas over the top ist. Von daher dachten wir: Okay, der Stoff ist schon hart, aber wenn wir die darin enthaltene Schwarze Pädagogik und deren Grausamkeit richtig behandeln, ist das ein sehr interessantes Vorhaben. Es gab ein paar Momente, auch kurz vor der Premiere, an denen wir dachten, dass wir das nicht machen können, wir doch etwas anderes suchen müssten, weil es so düster ist, und ich nicht wusste, wie man das Stück etwas aufheitern könnte. Dieser Gedanke hat einen ganz neuen Prozess in mir ausgelöst und mich ganz anders an den Stoff herangehen lassen: Es blieb nicht bei der ursprünglichen Geschichte, weil wir uns mehr auf die Sicht und das Leben der Jugendlichen konzentriert haben.
Wie gestaltete sich die Arbeit mit den Jugendlichen? War es schwieriger, gerade weil das Musical so skurril ist?
Erstaunlicherweise nicht. Anfangs hatten wir die Befürchtung, die Jugendlichen würden den Stoff sehr fremd finden, aber da viele das berüchtigte Bilderbuch bereits als Kinder gelesen bzw. vorgelesen bekommen haben, waren sie, vor allem in Kombination mit der seltsamen und fetzigen Musik, von der Idee überzeugt.
Wie bereits erwähnt, ist es mir sehr wichtig, dass die Jugendlichen das Stück mitgestalten können. Ich habe also viele Impulse der Gruppe berücksichtigt und Fragen diskutiert. Eine schwierige Szene war beispielsweise die mit dem „Mohren“, in der sich Fragen stellen wie: „Was heißt es, eine Minderheit zu sein?“, „Wie weit kann man gehen, bevor man Grenzen überschreitet?“ oder „Darf man das Wort ‚Mohr‘ überhaupt verwenden?“. Damit haben wir uns intensiv befasst. Besonders mit dem Begriff des „Mohren“ dachten wir uns, dass man das eigentlich nicht sagen könne. Aber wenn wir es genau mit dem Gefühl sagen, dass wir es eigentlich nicht sagen dürfen, was macht das mit uns? Was heißt eigentlich, politisch korrekt zu sein, und wie können wir es schaffen, eine neutrale Position beizubehalten?
Wir bringt ihr die Jugendlichen zum Tanzen?
In erster Linie ist es unser Ziel, ein Bewusstsein für den eigenen Körper zu schaffen. Deshalb bevorzugen wir eine lange Probenzeit, um eine starke Gruppendynamik zu entwickeln. Es ist ein sehr wichtiger Teil des Prozesses, Leute zum Tanzen zu bewegen. Dieser Teil muss stattfinden, um mehr Bewusstsein zu entwickeln, die Freude am Tanzen zu wecken und den Körper zu lockern. Erst dann kann man Stück für Stück ins Detail gehen und immer präziser werden.
Wir arbeiten viel mit Improvisationen, bei denen sich die Jugendlichen erst einmal selbst aussuchen, was sie machen wollen, wodurch sie ihren Köper zunächst kennenlernen. Nachdem diese Schwelle von „Oh Gott, was mache ich hier – rolle auf dem Boden, mache komische Bewegungen und Geräusche?“ überschritten wurde, kommt eine Schicht von Freiheit. Man bekommt das Gefühl, dass es eigentlich egal ist, was man tut, wenn man sich frei bewegt und in alle Richtungen ausdehnen kann. Und dann kann man diesen Zustand auf die Szenen übertragen. Wenn das etabliert ist, arbeiten wir sehr präzise, Schicht für Schicht und Ebene für Ebene, wodurch im Laufe des Prozesses das Stück selbst einen ganz neuen Charakter bekommt.
Welche Erfahrungen bringen die Jugendlichen mit?
Beim Casting für ein Musical ist für uns Voraussetzung, dass man mehr oder weniger gut singen kann und musikalische Grundkenntnisse hat. Menschen zum Bewegen zu bringen, ist etwas, in dem wir gut geübt sind: Da ist es möglich, jede_n von da abzuholen, wo er oder sie gerade steht, und auf ein Level mit weitaus mehr Möglichkeiten zu bringen. Was den Gesang betrifft, ist man entweder ein Naturtalent oder hat trainiert. Ansonsten ist es unmöglich, in so verhältnismäßig kurzer Zeit jemandem das Singen beizubringen. Von daher sind die Castings hauptsächlich auf den Gesang ausgelegt. Wir haben zwar einen kleinen Teil, der sich auch mit Bewegung und Tanz gefasst, der bleibt aber zweitrangig.
GRENZLAND // Mehrgenerationen-Tanzproduktion mit Männern mit und ohne Krebs // Foto: Britt Schilling
Wie beeinflusst die Schule der Jugendlichen die Proben und Vorstellungen?
Gar nicht. Wir proben zwei Mal die Woche am Abend über einen Zeitraum von sechs Monaten. Das Altersspektrum variiert zwischen 16 und 22 Jahren. Das heißt, die Jugendlichen haben alle einen unterschiedlichen Tagesablauf: Die eine studiert gerade Medizin, der andere ist gerade erst 16 geworden und geht noch aufs Gymnasium … In den Ferien haben wir dann intensive Phasen, in denen wir fünf Mal täglich von 10.00 bis 18.00 Uhr proben. Es wäre schön, auch Schulvorstellungen am Vormittag spielen zu können, allerdings ist es fast unmöglich, für alle eine Schulbefreiung zu bekommen.
Welche Projekte sind nach SHOCKHEADED PETER in Planung?
Ich arbeite sehr gerne mit nicht-professionellen Darsteller_innen zusammen, unter anderem auch in Community Dance-Projekten, in denen wir mit verschiedenen Gruppen prozessorientierte Stücke entwickeln. In der Vergangenheit habe ich mit Jugendlichen mit und ohne körperliche Behinderungen oder mit einer gemischten Gruppe aus älteren und jüngeren Menschen gearbeitet. In der Produktion DIE KRONE AN MEINER WAND haben Monica Gilette und ich gemeinsam mit einer Gruppe von 25 Frauen einen Abend über das Tabuthema Krebs erarbeitet – und diese Ebene finde ich sehr wichtig. Als Theatermacher stelle ich mir die Frage, wie wir mehr in Verbindung treten und eine Möglichkeit für Austausch schaffen können.
Das neuste Stück hatte unlängst Premiere: Es heißt GRENZLAND und behandelt das gleiche Thema wie DIE KRONE AN MEINER WAND – nur mit Männern unterschiedlichen Alters. Für die nächste Spielzeit planen wir die Produktion THE 3RD BOX, in der Moncia Gillette, Michael Kaiser und ich mit Jugendlichen aus der gleichen Altersgruppe wie bei SHOCKHEADED PETER das Themenfeld Gender bearbeiten werden. Wir kamen darauf, uns mit diesem Thema zu beschäftigen, da es seit dem 01. Januar 2019 in offiziellen Dokumenten die Möglichkeit gibt, neben „männlich“ und „weiblich“ auch „divers“ anzukreuzen. Aber was bedeutet das nun in der Praxis – und wie geht die Gesellschaft mit Menschen um, die nicht in ein binäres Raster passen? Da bin ich sehr gespannt, vor allem, wie sich das Stück im Probenprozess entwickeln wird.
Für die nächste Musical-Produktion haben wir schon ein paar Ideen, die wir derzeit prüfen. Wahrscheinlich wird es ein Pendant zum STRUWWELPETER sein. Aber zu viel möchte ich noch nicht verraten.
Das Gespräch führte Theo Granzin.