© Jörg Baumann

Internationale Tanzgastspiele, Deutschland-Premieren und die Förderung und Entwicklung zeitgenössischer Tanzkreationen durch Koproduktionen stehen im Mittelpunkt des Tanzprogramms am Theater Freiburg. Ein vielseitiges Angebot zur TANZVERMITTLUNG umgarnt die Tanzabende – als Momente der Begegnung, des Austauschs, des eigenen Ausprobierens und der Diskussion rund um aktuelle Themen, die die zeitgenössische Tanzwelt derzeit bewegt. Neben Workshop-Angeboten zum Mitmachen für professionelle Tanzschaffende genauso wie für Menschen, die Lust auf Bewegung haben, finden regelmäßig diskursive Veranstaltungen wie Tanzkinoabende und Vorträge statt, die einen Einblick in historische und gegenwärtige Entwicklungen im Tanz geben. Als Vortragende in der kommenden Spielzeit 2019/2020 ist Dr. Eliane Beaufils von der Universität Paris 8 zum Thema THEATER UND KLIMAWANDEL im Februar 2020 zu Gast. Bernhard Siebert vom Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen denkt im November 2019 einleitend zur Performance LENTO E LARGO von Jonas & Lander über einen TANZ DER ROBOTER nach.

Prof. Dr. Gerald Siegmund zeichnet in JÉRÔME BEL: TANZ UND THEATER ALS KRITISCHE PRAXIS – beim Ballett beginnend bis hin zum Konzepttanz des französischen Choreografen Jérôme Bel – tanzhistorisch nach, welche Kommunikationsweisen mit dem Publikum in Tanz und Choreografie gedacht, praktiziert und hervorgebracht wurden. Dr. Gerald Siegmund ist Professor für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und hat seinen Vortrag freundlicherweise zum Nachlesen zur Verfügung gestellt.

WIE KOMMUNIZIERT DER TANZ?
JÉRÔME BEL: TANZ UND THEATER ALS KRITISCHE PRAXIS

Die Entwicklungen des zeitgenössischen Tanzes seit den 1990er Jahren haben vielfach mit den etablierten Formen des Tanzes gebrochen und dadurch zu einer nachhaltigen Verstörung beim Publikum geführt. Was von Kritikern als „Konzepttanz“ bezeichnet wurde, kann man genauer als Befragung und Analyse des Tanzes und seiner Bestandteile definieren. Diese Analyse setzt an unterschiedlichen Punkten an. Fragt der französische Choreograf Jérôme Bel etwa nach der Beschaffenheit der im Bühnentanz eingesetzten Mittel, interessiert sich ein Künstler wie Xavier Le Roy für die institutionellen Rahmenbedingungen, in denen Tanz produziert und rezipiert wird. Diese Selbstreflexion des Mediums Tanz als Bühnenform schließt, so möchte ich im Folgenden argumentieren, auch eine Reflexion auf die Kommunikationssituationen ein, die der Tanz etabliert. Scheint diese nachhaltig gestört zu sein, lohnt es sich noch einmal daran zu erinnern, wie Tanz kommuniziert und welche (historischen) Modi der Kommunikation mit seinen Zuschauern er ausgebildet hat. Wie also können wir Stücke wie jene von Jérôme Bel, in denen im traditionellen Sinne nicht getanzt wird und die sich dennoch als Tanzstücke begreifen, verstehen?

BALLET

Als einzig legitime Form des Bühnentanzes galt bis um 1900 das Ballett, das sich vornehmlich dadurch auszeichnete, dass es den tanzenden Köper im Spiegelbild idealer geometrischer Formen neu zusammensetzen wollte. Das Verhältnis der Gliedmaßen zueinander, die körperlichen Proportionen und das Verhältnis der Körper zueinander im Raum spielten dabei eine zentrale Rolle. Die großen Handlungsballette des 18. Und 19. Jahrhunderts erzählten ihre Geschichten durch pantomimische Gesten und Haltungen, die analog zur verbalen Sprache die Handlung nachvollziehbar machten und so ein Verstehen ermöglichten. Unterstützt und vorangetrieben wurden die Pantomimen durch überwiegend tänzerische Teile, die aus festgelegten Schrittfolgen und Figuren bestanden, welche choreographisch gestaltet wurden. Dabei wurden Kombinationen erprobt, während der Bewegungsfluss, der durch ihre Abfolge entstand, am Höhepunkt der Geschichte in Form von gehaltenen Figuren oder Posen stillgestellt wurde. Man kann also sagen, dass Ballett auf das Arretieren und Ausstellen der Bewegung zielt, die dadurch, dem Punkt in einem Satz gleich, zu einer Sinneinheit zusammengeschlossen werden. Ballett galt vielen daher als optisches Phänomen. Körper und Bewegungen wurden in ihrer Idealität sichtbar gemacht und in der Pose ausgestellt, die den Sinn der getanzten Sequenz zusammenfasst.

MODERNER TANZ

Die vornehmlich optische Form der Kommunikation im Ballett wird mit dem gegen Ende des 19. Jahrhundert aufkommenden freien oder modernen Tanz radikal infrage gestellt. An die Stelle der Arbeit mit der Geometrie und der äußeren Gestalt des Körpers (Proportionen, Linie) tritt im modernen Tanz die Arbeit mit der Energie und damit mit körpereigenen Prinzipien und deren Antrieb. Diese grundlegende Veränderung im Verständnis von Tanz ging Hand in Hand mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen etwa die Entdeckung der Elektrizität oder Versuchen im Bereich der Physiologie, die die Verbindung von muskulären Spannungen auf das Einstellen von geistigen Bildern erforschte. Will die Figur im Ballett gesehen werden, will die Phrase im modernen Tanz körperlich erfahren und sogar erspürt werden. Der moderne Tanz fasst den Tanz als energetisches Prinzip, das jeder Art von Bewegung zugrunde liegt. Der amerikanische Tanzkritiker John Martin beschreibt den modernen Tanz daher als „organised and sustained emission of movement“, die im tänzerischen Prozess gestaltet wird. Der moderne Tanz arbeitet mit der Dynamik von Verlangsamung und Beschleunigung, von Kontrolle und scheinbarem Kontrollverlust, die dem Tanz Spannung verleiht.
Der Körper erscheint darin als plastisches Volumen, das sich flexibel an den Ein- und Abdrücken der äußeren Umgebung – der Natur, dem Kosmos – wie der inneren physischen und psychischen Regungen formend anpassen kann. Der Tänzer und die Tänzerin können diese Empfindungen auf äußerst individuelle Weise bearbeiten und kommunizieren, indem sie ihnen in ihrem eigenen Körper nachspüren. Tanz wird zur subjektiven Sicht auf die Welt. Biologische Prinzipien wie die Atmung oder die Muskelkraft werden als gleichsam „natürliche“ Gestaltungsprinzipien für Bewegung eingesetzt. Daraus folgt nun eine dem Medium Tanz spezifische ästhetische Rezeptionsweise. Emotionale und sinnliche Qualitäten übertragen sich durch kinästhetische Wahrnehmung, mithin also durch ein körperliches Mitvollziehen der Bewegung und ihrer emotionalen Gehalte. Schon lange vor dem Zeitalter neurowissenschaftlicher Erkenntnisse über Spiegelneuronen tanzt der Zuschauer im Sessel beim Betrachten von Bewegung mit. Tanz induziert eine körperliche (muskuläre, neuronale) Reaktion im Zuschauer, die in ihm Gefühle oder Bilder hervorruft. In der kinästhetischen Wirkung liegt die spezifische ästhetische Qualität des Tanzes begründet. Er ermöglicht eine Kommunikation von Körper zu Körper.

© Justus-Liebig-Universität Gießen

POSTMODERNER TANZ

Von diesem Hintergrund lässt sich die Entwicklung des Tanzes in den 1960er Jahren als zweiter Modernisierungsschub begreifen. Kritiker wie Sally Banes bezeichneten diese Entwicklung als postmodernen Tanz. Eine Errungenschaft des modernen Tanzes war die radikale Subjektivierung der Bewegung und ihrer Gestaltung durch die Persönlichkeit der Tänzerin oder des Tänzers. Grundlage für die Kommunikation mit den Zuschauern bildeten deren innere Regungen, mit denen sie auf äußere Eindrücke reagierten. Die Subjektivierung der Bewegung und deren Ausdruck weicht im postmodernen Tanz dagegen der Objektivierung der Bewegung und deren physischer Artikulation. Der innere, subjektive Raum des Tänzers wurde nicht mehr in erster Linie als Verhandlungsraum widerstreitender Kräfte begriffen, sondern als Raum, in dem Zellen, Gelenke, Knochen und Muskeln koordiniert und in ihrem Bewegungspotential angezapft werden können. Von dieser Verschiebung nehmen Tanztechniken wie die Release-Technik, die den Raum zwischen den Gelenken des menschlichen Skeletts als Potential für Bewegungen begreift, oder auch die Kontaktimprovisation und das Body-Mind-Centering ihren Ausgang. Der Fokus auf die pure Artikulation von Bewegung objektiviert Bewegung in dem Sinne, dass es sie unabhängig macht von persönlichen Empfindungen, die ausgedrückt werden sollen. Stattdessen entwirft die Vorstellung einer objektiven Materialität des Körpers diesen als ein kinetisches Gebilde, dessen Bewegungen als sie selbst wahrgenommen werden wollen. Im unbewussten Rückgriff auf das Ballett wird der Tanz hier wieder visuell: die objektivierte Bewegung soll als Bewegung gesehen werden, bevor sie wieder in der Zeit absinkt und verschwindet. Um dies zu erreichen entwickelt der postmoderne Tanz ausgeklügelte Verfahren der Wiederholung und der Verschiebung von Bewegungsmustern und choreographiert diese mit Hilfe von partiturartigen Scores.

KONZEPTTANZ

Hier nun endlich komme ich zu Jérôme Bel und dessen Einsatz in seinen Stücken seit den 1990er Jahren. Moderner und postmoderner Tanz stimmen darin überein, dass sie den Körper als gleichsam natürlichen oder sogar biologisch-medizinischen Körper begreifen. In beiden Ausprägungen wird die Bewegung als das „Eigentliche“ des Tanzes angesehen und an den (emotionalen, materiellen) Körper rückgebunden. Jérôme Bels Einsatz, der hier exemplarisch für viele Choreographinnen und Choreographen des sogenannten Konzepttanzes verstehen möchte, kann auf der Grundlage des gerade skizzierten modernistischen Szenarios zunächst ex negativo beschrieben werden. Tanz ist kein ständiges Verströmen von Energie und daher auch kein ständiger Fluss von Bewegung. Die Tänzer werden nicht dazu aufgefordert, originelle und individuelle Bewegungen zu erfinden oder zu artikulieren. Ihre Körper sind keine Innenräume, die es durch Propriozeption, dem Wahrnehmen von inneren Bewegungen, dem Aufspüren von Impulsen und deren Gestaltung auszuloten gelte. Sie versetzen sich nicht in Zustände, um mit ihrem Tanz unausgelotete Bewegungspotentiale des Köpers zu aktivieren und zu artikulieren. Stattdessen versteht Jérôme Bel den tanzenden Körper als ein kulturelles Konstrukt.

Auf vielfältige Weise inszeniert er in seinen Stücken stets das Verhältnis zwischen Körper und Sprache, von der die Tänzerinnen und Tänzer abhängen. In seinem erfolgreichen Stück THE SHOW MUST GO ON dem Jahr 2000 folgt eine Gruppe von ca. zwanzig Tänzerinnen und Tänzern dem Ruf von neunzehn bekannten Popsongs. Dazu führen fast schon illustrierend genau das aus, was der Refrain der Popsongs ihnen vorgibt. Singen die Beatles COME TOGETHER, versammeln sie sich auf der Bühne, fordert sie David Bowie zu LET’S DANCE auf, tun sie genau das auf je individuelle Weise. Es ist die Sprache und die kulturellen Muster, die sie aufruft, die die Körper bezeichnet und für uns zu kommunizierenden Körpern macht. Die Tänzerinnen und Tänzer sind Träger von Gedanken, die sie durch ihr konzentriertes und stetiges Tun für die Zuschauer Schritt für Schritt nachvollziehbar machen. Die Zuschauer tanzen nicht mit, sondern sie denken mit. Sie verfolgen aufgrund der langsamen und genauen Entfaltung der einzelnen Körperbilder die Entstehung der jeweiligen Körper mit, bevor der nächste Gedanke anhebt und den Körper und seine Bedeutung erneut transformiert. Der Körper kann auch im Konzepttanz vieles sein, wobei sein Potential hier gerade nicht von seiner physiologischen Beschaffenheit abhängt, sondern von den unterschiedlichen kulturellen Kontexten (in unserem Beispiel repräsentiert durch die einzelnen Lieder), in denen er agiert. Der Körper wird auf diese Weise erfahrbar als kulturelles Konstrukt, der durch performative Prozesse des Wiederholens und des gemeinsamen Tuns (Tanzen) geformt ist. Er erscheint als historisch sedimentierter Körper, der aus Erinnerungen besteht, die ihre Spuren in ihm hinterlassen haben. Der Körper und vor allem der tanzende Körper wird ist hier nicht mehr länger ein autonomer, sich selbst hervorbringender Körper. Er ist das Produkt verschiedener gesellschaftlicher Diskurse und Wissensfelder. In der Kommunikation mit dem Publikum setzen Stücke wie die von Jérôme Bel auf das Lesen und Verstehen von kulturellen Mustern. Dabei spielen optische und akustische Signale eine ebenso große Rolle wie die Bewegung des Körpers. Dennoch soll die sinnliche kinästhetische Wirkung der Stücke hier nicht unterschlagen werden. Denn auch die durch performative Prozesse der Wiederholung hergestellte und erinnerte Bewegung ist eine körperliche und löst nicht nur Gedanken, sondern auch Empfindungen aus.

Prof. Dr. Gerald Siegmund
Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, Justus-Liebig-Universität Gießen