Vampir

Michael Kaiser: In den vergangenen zehn Jahren haben wir so einiges gemeinsam ausgeheckt. Wir waren u. a. auf der Suche nach dem Übernatürlichen im Kulturbetrieb (GEISTERJAGD DURCHS THEATER) und in der Schule (SPUKVERSICHERUNG), haben uns wiederholt 24 Stunden lang mit vollkommen Fremden im Werkraum verbarrikadiert und in dieser Zeit eine komplette Performance auf die Beine gestellt (INTENSIVSTATION), als das Große Haus 2014 saniert wurde, haben wir für RAUSCH + RUMMEL einen Rummelplatz in die Ersatzspielstätte gebaut, wir sind im Rahmen von KÄPT’N ANALOG UND DIE DIGITAL NATIVES – du in Regiefunktion, ich als Autor und Live-DJ – mit einem Mehrgenerationen-Ensemble in die Vergangenheit und Zukunft des Digitalzeitalters gereist …

Benedikt Grubel: … meine Güte, bei deiner Aufzählung wird mir ja ganz schwindelig.

Michael Kaiser: Und ich bin noch nicht am Ende. Bei MAULINA und MARTA haben wir gemeinsame Sache mit dem Autor Finn-Ole Heinrich und dem Musiker Spaceman Spiff gemacht, wir haben uns in KARLSSON VOM DACH spielend-inszenierend mit sympathisch-unsympathischer Hochstapelei beschäftigt und zuletzt mit DIE VERWANDLUNG Kafka für Kinder erzählt.

Wie würdest du unser aktuelles Stück DAS LEBEN DES ANDEREN in dieser Reihe von Produktionen verorten?

Benedikt Grubel: Da werden haufenweise Erinnerungen an viele spannende, extrem vielfältige, aber auch sehr unterschiedliche Projekte wach. Was mir auf den ersten Blick auffällt: dass unsere Inszenierungen, Theater-Experimente und Mitmach-Projekte den oftmals so klar abgesteckten Rahmen von „Kinder- und Jugendtheater“ ziemlich aus den Angeln heben. Viele unserer Vorhaben lassen sich auf keine Altersgruppe festlegen, sondern verfolgen einen generationenübergreifenden Ansatz. Bei der VERWANDLUNG zum Beispiel sitzen oft Zehnjährige neben Oberstufenschüler_innen, neben Erwachsenen, neben Senior_innen im Saal. Dass Theater ein Raum sein kann, in dem Menschen unterschiedlichsten Alters zusammenkommen und Erfahrungen miteinander teilen, finde ich großartig.

Michael Kaiser: Diesen Punkt finde ich elementar. Je diverser das Publikum ist, desto spannender wird’s. Dann landet man schnell bei einer sehr ursprünglichen Idee von Theater – als Ort, in dem sich die heterogene Gesellschaft versammelt, um elementare Fragen der Gemeinschaft zu verhandeln.

Benedikt Grubel: In DAS LEBEN DES ANDEREN stehst du nun gemeinsam mit dem Lehrer Christian Heigel auf der Bühne. Euch gegenüber auf der Publikumstribüne – dort, wo während der Proben normalerweise das Regieteam an langen Tischen sitzt – thronen fünf Jugendliche und bringen euch mit ihren Fragen, mit ihrem Nachhaken und ihren Regieanweisungen ins Schwitzen. Ich denke, dass die Inszenierung damit am Ende für Erwachsene wie für Schüler_innen interessant ist. Ich mag es, wie sich die unterschiedlichen Perspektiven auf die Institutionen Schule und Theater – aufs Leben, Lernen und Arbeiten – gegenseitig befeuern und beflügeln. Kontrolle abzugeben, die Bühne auch für Menschen zu öffnen, die erstmal keine Theater-Profis sind – das hält das Theater auf lange Sicht frisch und lebendig.

Wie geht es dir da eigentlich als Performer, wenn du den fünf Jugendlichen in DAS LEBEN DES ANDEREN vor den Augen des Publikums Rede und Antwort stehen musst?

Das Leben des anderen
DAS LEBEN DES ANDEREN // Noah Menzinger // Christian Heigel // Michael Kaiser // Timon Roosen // Foto: Marc Doradzillo
Hauptprobe
Benedikt Grubel und Michael Kaiser während der 2. Hauptprobe von DAS LEBEN DES ANDEREN // Foto: Marc Doradzillo
Das Leben des anderen
DAS LEBEN DES ANDEREN // Michael Kaiser // Christian Heigel // Foto: 2019 // Marc Doradzillo
Das Leben des anderen
DAS LEBEN DES ANDEREN // Christian Heigel // Foto: Marc Doradzillo
Das Leben des anderen
DAS LEBEN DES ANDEREN // Teresa Jägle // Timon Rossen // Michael Kaiser // Malika Scheller // Noah Menzinger // Charlotte Wunderlich // Foto: 2019 // Marc Doradzillo
Das Leben des anderen
Hauptprobe
Karlsson vom Dach
Das Leben des anderen
Das Leben des anderen

Michael Kaiser: Für mich war das überfällig! Im Laufe der Jahre haben wir so viele Produktionen realisiert, in denen junge Menschen auf der Bühne von sich und ihren Lebenswelten berichtet haben – da war ich neugierig darauf, wie sich das anfühlt, einmal selbst diese Position einzunehmen und das Stück mit Material zu füttern, das sich aus meiner Biografie und aus den Erlebnissen während des Jobtauschs „Künstler als Lehrer und Lehrer als Künstler“ speist. Da ich mehrere Wochen als Lehrer für Deutsch und Englisch in Christians Schule unterwegs war, fand ich deinen Vorschlag zum Beginn der Proben sofort einleuchtend, die klassische Schulsituation in dieser Inszenierung umzudrehen – nun also als Erwachsener von Schüler_innen in die Mangel genommen zu werden. Bereits beim ersten Workshop haben Malika, Charlotte, Teresa, Noah und Timon das ganz großartig gemacht und uns nicht eine Sekunde lang geschont. Das war beeindruckend und herausfordernd gleichermaßen – denn ihre Fragen gingen tatsächlich oft ans Eingemachte und rüttelten nicht selten an grundsätzlichen Lebensentscheidungen.

Apropos „Performer“ – wie war das für dich, bei dieser Produktion, anders als bei KARLSSON VOM DACH oder DIE VERWANDLUNG, nicht selbst auf der Bühne zu stehen, sondern den Abend mit den Jugendlichen und uns als Spielleiter zu erarbeiten?

Benedikt Grubel: Ich mag diese fließenden Wechsel der Arbeitsbereiche extrem gerne. In dem einen Projekt stehst du mitten im Geschehen auf der Bühne – in dem anderen begleitest du den Prozess stärker von außen und hast umso öfter die Gelegenheit, frisch draufzuschauen und die inhaltlichen und inszenatorischen Bögen im Blick zu behalten. Dieser fortwährende Perspektivwechsel ist abwechslungsreich und herausfordernd, aber ich habe das Gefühl, dass er die Arbeit auch projektübergreifend lebendig hält: Alles bleibt im Fluss – spielerisch und gedanklich.
Ich freue mich da übrigens auch schon sehr auf unser nächstes gemeinsames Vorhaben. In DRACULA stehen wir ja wieder mal alle gemeinsam auf der Bühne – als gleichermaßen spielendes wie inszenierendes Vampir-Kollektiv: Der Musiker Jan-Paul Werge, die Regisseurin und Performerin Gesa Bering, du und ich. Das Team von KARLSSON VOM DACH schraubt also den Propeller ab und legt sich spitze Eckzähne zu.

Was waren deine ersten spontanen Gedanken, als Gesa auf einer gemeinsamen Zugfahrt die Idee aufbrachte, der Spur des legendären Blutsaugers zu folgen?

Das Leben des anderen
DIE ERSTAUNLICHEN ABENTEUER DER MAULINA SCHMITT // Spaceman Spiff // Finn-Ole Heinrich // Foto: Maurice Korbel
Karlsson
KARLSSON VOM DACH // Benedikt Grubel // Michael Kaiser // Jan Paul Werge // Foto: Maurice Korbel
Das Leben des anderen
SCHAU INS UNSICHTBARE // Benedikt Grubel // Gesa Bering // Foto: Maurice Korbel
Das Leben des anderen
DIE VERWANDLUNG // Gesa Bering // Foto: Marc Doradzillo

Michael Kaiser: Gesa hätte auch vorschlagen können, in dieser Konstellation das Telefonbuch von Wanne-Eickel auf die Bühne zu bringen – ich wäre auf jeden Fall an Bord gewesen. Die Arbeit an KARLSSON war für mich sehr verblüffend, denn künstlerisch-kollektive Prozesse können komplex und kompliziert sein: Wer entscheidet, was gespielt wird – und wie? Wie viel Reibung im Prozess ist produktiv? Wessen Ideen werden am Ende umgesetzt? Dass wir in dieser Vierergruppe auf Anhieb so gut, so unkompliziert und so produktiv gearbeitet haben, war bemerkenswert. Ich habe das schon oft ganz anders erlebt, und wir hatten vor KARLSSON ja noch nie in dieser Konstellation zusammengearbeitet. Mit DRACULA hat Gesa bei mir aber auch so offene Türen eingerannt: Ich wollte schon lange eine Produktion realisieren, in der man einmal ganz intensiv die Motive des Gruselns untersucht.

Wollen wir denn schon verraten, was wir mit Bram Stokers Klassiker alles vorhaben?

Benedikt Grubel: Sagen wir mal so: Es wird viel Nebel auf der Bühne geben, Rote Beete, vielleicht eine Orgel …

Michael Kaiser: Die Orgel ist für mich gesetzt!

Benedikt Grubel: Ganz bestimmt aber aufwendige Fantasie-Kostüme von Sarah Mittenbühler.

Michael Kaiser: Darüber freue ich mich besonders. Sarah stattet unterdessen europaweit Opern an großen Häusern aus, und ich bin sehr froh, dass sie Zeit und Lust hat, mit uns auf diese blutrote Recherchereise zu gehen und uns mit ihren außergewöhnlichen Kostümideen in Geschöpfe der Nacht zu verwandeln.

Benedikt Grubel: Ich rechne darüberhinaus mit mindestens einem explodierendem Scheinwerfer, einem ständig knarrendem Bühnenboden und einem Dracula, der am Ende womöglich ganz anders aussieht, als wir es uns in unseren finstersten Träumen ausgemalt haben.

DIE VERWANDLUNG // 2019 // Trailer: Benedikt Grubel

Michael Kaiser: Und was reizt dich an diesem Stoff?

Benedikt Grubel: Ich finde die Frage spannend, wovor wir uns fürchten, und in welchen Bildern, Klängen, Figuren und Mythen sich diese Furcht ihren Weg bahnt. Es geht ja auch um die Lust an der Angst, um einen Umgang mit ihr – um den Nervenkitzel und das Adrenalin. Dabei freue mich riesig darauf, dass wir bei DRACULA wieder mit Kinderdramaturg_innen zusammenarbeiten werden, die den Probenprozess begleiten – uns ihre Sicht auf den Stoff und seine Themen schildern und nach den Proben ihre Beobachtungen und Kritikpunkte mitteilen. Ich fand das sowohl bei der VERWANDLUNG als auch bei KARLSSON eine wunderbare Zusammenarbeit.

Michael Kaiser: Worin hat sich das für dich gezeigt?

Benedikt Grubel: Ich denke mit großer Freude daran zurück, wie sich die Kinder im Vorfeld unserer KARLSSON-Proben überlegt haben, wer welche Rolle spielen sollte. Insgesamt waren neun Figuren zu besetzen – wir waren allerdings nur vier Performer_innen. Und dann fielen so schöne Sätze wie: „Wenn er schon die Mutter ist, dann muss er auch noch die Schwester und auch noch der Dieb und die Haushälterin sein.“

Am Ende haben wir‘s auch ziemlich genauso gemacht, wie es uns unsere Kinderdramaturg_innen geraten haben.

DAS LEBEN DES ANDEREN // 2019 // Trailer: Benedikt Grubel

Michael Kaiser: Dieses Konzept ist in meinen Augen ganz elementar für unsere Arbeit. Im Jungen Theater bringen wir eine Vielzahl von Produktionen zur Premiere, in denen junge Menschen selbst auf der Bühne stehen. Jedoch auch bei den Stücken, bei denen sie nicht aktiv als Spieler_innen mit von der Partie sind, ist uns Partizipation bzw. Kollaboration immens wichtig. In dem von dir beschriebenen Fall als Berater_innen und Mitgestalter_innen der kreativen Prozesse. Dabei merkt man auch immer wieder, dass man jungen Menschen im Kinder- und Jugendtheater mehr zutrauen kann, als die Erwachsenen in vielen Fällen vermuten. Wir haben immer wieder erlebt, dass Eltern der Meinung waren, ein Stück sei zu komplex für den Nachwuchs. Im Gespräch mit den Kinderdramaturg_innen jedoch stellte sich klar heraus, dass sie sämtliche Aspekte der Inszenierung durchdrungen haben. Das liegt auch daran, dass Kinder dem Theater erst einmal sehr offen begegnen, die Fantasie bei ihnen noch viel ausgeprägter ist und sie noch nicht den Mechanismen der logisch-kausalen Erwachsenenwelt folgen. Zum Glück!

Benedikt Grubel: Absolut. Kinder sind wunderbar offene Theaterbesucher_innen, weil sie der Welt per se extrem neugierig gegenüberstehen und sie spielerisch erkunden. Dieses Interesse an der Welt, den spielerischen Freiraum, die Lust am Experiment, den Mut etwas auch mal ganz anders zu denken, dafür scheint mir das Theater der ideale Ort zu sein – ganz egal, ob man jetzt vier, vierzehn, vierzig oder vierundachtzig Jahre alt ist … oder sogar unsterblich wie Graf DRACULA.

DAS LEBEN DES ANDEREN

ist in der Spielzeit 2018/2019 nochmals am Fr, 05.07.2019 im Werkraum zu sehen. Weitere Aufführungstermine folgen ab So, 03.11.2019. Ausführliche Hintergründe zu diesem Stück gibt es außerdem auf dem Blog des Jungen Theaters.

DRACULA

hat am Sa, 15.02.2020 Premiere und richtet sich an alle Unerschrockenen ab 12 Jahren. Kinder, die Lust haben, die Produktion als Dramaturg_innen zu begleiten, können sich per Mail bei Michael Kaiser hierfür vormerken lassen: michael.kaiser@theater.freiburg.de

DIE VERWANDLUNG

ist ab Do, 05.03.2020 wieder im Spielplan. Erstmals werden wir diese Produktion in der Spielzeit 2019/2020 auch für Schulgruppen an Abendterminen unter der Woche zeigen.